Hanafīya

Der sunnitische Islam kennt heute noch vier aktive und einflussreiche Rechtsschulen. Die Madhhab oder auch Mezheb genannten Schulen wurden im Laufe der Zeit nach den Imamen benannt, die hauptsächlich und oft unbewusst an der „Gründung“ der Denkschulen beteiligt waren.

Die vermutlich weltweit zahlenmäßig am stärksten vertretene Madhhab ist die von Imam Abu Hanifa. Im Deutschen werden diejenigen, die dieser Rechtsschule angehören, als Hanfiten oder Hanafitinnen bezeichnet.

Geschichte der Hanafiya

Historisch hat sich die Rechtsschule aus mindestens zwei vorherigen „Schulen“ zusammengesetzt: der aus Abu Hanifas Geburtsstadt Kufa und der aus der südirakischen Küstenstadt Basra. Kufa spielte auch deshalb eine wichtige Rolle, als dass der vierte Kalif der Raschidun Ali ibn Abi Talib die Hauptstadt dorthin verlegt hatte und viele Muslim*innen der Generationen der Sahaba und der darauffolgenden Tabi’un sich dort ansiedelten.

In Abu Hanifas und den Werken seiner wichtigen Schüler, wie zum Beispiel Abu Yusuf und Muhammad al-Schaybani, wurden die wichtigen Grundlagen für die hanafitische Rechtsschule gelegt und diskutiert. Die Prinzipien der Rechtsfindung (usul al-fiqh) der Madhhab erkennt folgendes als rechtmäßig in Bezug zur Scharia an:

  • Quran
  • Hadith
  • Idschma
  • Qiyas (Analogismus)
  • Istihsan (etwas als besser erachten)
  • Urf (lokales Gewohnheitsrecht)

Madhhab weit über der Welt verbreitet

Die hanafitische Rechtsschule konnte sich besonders unter den Abbasiden in weiten Teilen des Reiches durchsetzen und ist bis heute erhalten geblieben.

Heute ist die Madhhab vor allem in Ländern des ehemaligen Osmanischen Reiches, Zentralasien und Südasien verbreitet – Bosnien-Herzegowina, die Türkei, Tschetschenien, Pakistan, Indien, Ostturkestan (Uiguren), Afghanistan, Bangladesch sowie Deutschland sind dabei nur einige Beispiele.

Diese geographische und historische Ausdehnung (die hanafitische Rechtsschule war im osmanischen Reich staatstragend) hat auch dazu beigetragen, dass rechtliche Auslegungen in z.B. dem Kosovo sehr unterschiedlich sind zu Auslegungen für die gleiche Situation in Bangladesch. Die oft sehr detaillierten und komplizierten Rechtswerke sind für Studierende und Praktizierende der Madhhab anfangs schwierig zu erlernen.

Imam Abu Hanifa

Abu Hanifa wurde im Jahr 80 des Hidschri-Kalenders im Umayaden-Reich geboren, was dem Jahr 699 u.Z. entspricht und gilt als einer der größten Gelehrten der islamischen Geistesgeschichte. Seine Geburtsstadt Kufa war zu der Zeit eines der wichtigsten Zentren der Gelehrsamkeit, wo er als Kind persischer Abstammung bereits sehr früh den Quran auswendig lernte und sich einen Namen als fähiger Ansprechpartner für Rechtsfragen erarbeitete.

Abu Hanifa erlebte den Niedergang der Umayaden und Aufstieg der Abbasiden persönlich und wurde am Ende Opfer seiner Zeit. Der berühmte, abbasidische Kalif und Großvater von Harun ar-Rašīd Kalif al-Mansur bat Abu Hanifa die Stelle des Qadi al-Qudat („Richter aller Richter“ oder einfacher: höchster Richter des Staates) an, die er mit dem Hinweis unabhängig bleiben zu wollen ablehnte. Davon gekränkt lies al-Mansur den Imam foltern und warf ihn daraufhin ins Gefängnis. Kurze Zeit später starb er dort, doch lehrte weiter bis zu seinem Tod. Nicht wenigen Muslim*innen gilt er wegen der Art und Weise seines Todes als Märtyrer oder Šahīd.

Sein Grab und der darüber errichtete Schrein wurde im 16. Jahrhundert zerstört, wenig später neu errichtet und steht seitdem bis heute in Bagdad. Das Viertel rund um Abu Hanifs Grabstätte trägt den Namen al-A’zamīya nach dem Beinamen Abu Hanifas „al-Imam al-A’zam, der größte Imam“.

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