Welche theologischen Positionen gibt es zu Steinigung und Händeabschneiden?

Menschenrechte und Scharia 2/4

Oft wird der Islam mit Steinigung und Händeabschneiden in Verbindung gebracht. Auch Extremisten, die die Umsetzung der Scharia propagieren, meinen oft mit der Scharia das islamische Strafrecht. Doch ist das Thema etwas komplexer. Wenige Staaten wie Nigeria, Saudi-Arabien, Iran und Sudan haben die sogenannten Hadd-Strafen (Mehrzahl „Hudud“) in ihrem Strafrecht kodifiziert. Doch beginnen wir mit der Frage: Was ist die Scharia?

Die Scharia ist zunächst kein Gesetzestext, schon gar nicht ein Staatsmodell. Vielmehr ist sie eine Rechtstradition, die je nach Kultur und Region im Laufe der Geschichte unterschiedlich umgesetzt wurde. [1] Obwohl das Strafrecht oft das Einzige ist, womit man die Scharia assoziiert, umfasst der strafrechtlich relevante Teil eines typischen Fiqh-Buches nur etwa zwei Prozent des gesamten Werkes.

Das klassisch-islamische Strafrecht schreibt drei Arten von Strafen vor: Die festen Strafen für Ehebruch, Straßenraub und ähnliches (Hadd-Strafe), die Wiedervergeltung (qisas) und Strafen, die im Ermessen des Richters liegen (ta’zir). Bei der Hadd-Strafe wird Diebstahl mit Handamputation, Straßenraub (hirabah) mit Kreuzigung, Ehebruch mit der Steinigung und die Verleumdung einer Person wegen angeblicher Unzucht (qadhf) mit 40-80 Peitschen bestraft. Ibn Taymiyyah hält fest, dass diese Strafkategorien durch die menschliche Vernunft festgehalten wurden, nicht durch die religiösen Schriften.

Doch wie verhalten sich diese Strafen zu den allgemeinen Menschenrechten?

Hudud und Menschenrechte

Mohammed Hashim Kamali, afghanischer Hochschullehrer für islamisches Recht, stellt fest, dass nach den Hadd-Strafen in den jeweiligen Koranstellen immer auch Raum zur Reue und göttlichen Vergebung gelassen wird. [2] Er untersucht weiterhin die verschiedenen Meinungen in der islamischen Rechtstradition zu der Frage, ob öffentliche Reue bzw. Verzichtsäußerung die Hadd-Strafe aufgeben kann: Während die Hanafiten und Malikiten das ablehnen, wird es von der schafiitischen und hanbalitischen Rechtsschule befürwortet. Ibn Taymiyyah war sogar der Meinung, dass im Falle der Reue die Strafe nicht vollzogen werden darf. [3] Er hält fest, dass es in der Religion in erster Linie um die persönliche spirituelle und moralische Vervollkommnung geht und die Scharia es fordere, die Hadd-Strafe nur bei einem Rückfall zu vollziehen.

Viele muslimische Juristen machten auch darauf aufmerksam, dass die Scharia mit den Hadd-Strafen eher Abschreckung bezweckt, als die tatsächliche Umsetzung. Sie begründen das damit, dass der Beweismaßstab sehr hoch gesetzt wurde. Auch wird der Ausspruch des Propheten herangezogen, in dem es heißt: „Vermeidet die Hudud im Zweifelsfall, denn sich in der Milde/Nachsicht zu täuschen ist besser als zu Unrecht zu bestrafen“. Die Beweislast für Ehebruch wird im Koran auf vier Zeugen festgelegt, ansonsten wird man aufgrund Verleumdung der Würde verurteilt. Auch gibt es Überlieferungen in den Hadithsammlungen, in denen der Prophet die Strafe für Ehebruch abzuwenden versuchte. Als ein Mann namens Ma’iz zu ihm kam und seinen Ehebruch gestand, erwiderte der Prophet, er sei irrsinnig geworden. Er beharrte darauf und der Prophet sagte, er habe sie vielleicht nur geküsst. [4] Sogar Schwangerschaft galt nicht als Beweis. Falls ein Ehemann seit Jahren fort war, und seine Ehefrau dennoch schwanger wurde, könnte er dennoch auf wundersame Weise zu ihr transportiert worden sein. Obwohl solch übernatürliche und phantastische Behauptungen in der islamischen Rechtswissenschaft keine Bedeutung haben, wurden sie zur Verhinderung von Hadd-Strafen hingenommen.[5]

Dieselbe Mehrdeutigkeit (auch bezeichnet als Schubuhat) ist auch bei anderen Hadd-Strafen vorzufinden, wie z.B. Diebstahl (Sariqa). Hier geht es um eine bestimmte Art von Diebstahl, bei dem es um einen Gegenstand mit einem bestimmten Mindestwert geht. In einer Hadithüberlieferung heißt es zum Beispiel, dass der Dieb dazu aufgefordert werden soll, es zu leugnen, dass es um Diebstahl geht. Im Gerichtsverfahren reichte es also aus, selbst wenn man auf frischer Tat mit ausreichenden Zeugen ertappt wurde, zu behaupten, er hätte den Gegenstand für sein Eigentum gehalten, um genug Mehrdeutigkeit zu haben, das Risiko der Handamputation aus dem Weg zu schaffen. Al-Subki stellte in seiner berühmten Fatwa 95 Bedingungen auf, die für das Inkrafttreten der Handamputation notwendig gewesen wären. Rudolph Peters, ein Islamwissenschaftler an der Universität Amsterdam hält daher fest, es sei fast unmöglich einen Dieb oder Ehebrechenden zu verurteilen, außer er oder sie möchte es so. [6]

Diese Mehrdeutigkeit hieß jedoch nicht, dass die Täter straflos davonliefen. Oft wurde von der Hadd-Strafe ausgewichen und die Strafe lag bei ausreichender Beweislage im Ermessen des Richters. Der Richter sah es also in seiner Verantwortung, eine endlose Liste von Mehrdeutigkeiten zu untersuchen, um der Hadd-Strafe zu entfliehen. Eher andere Züchtigungspraktiken wurden standardmäßig als Ermessensstrafe angewandt, wie die Bastonade, die Peitschenhiebe oder die Inhaftierung.

Außerdem wurde in der Sunna davon abgeraten, das private Fehlverhalten anderer ausfindig zu machen und ihnen hinterher zu spionieren (tajassus). Es findet sich eine Überlieferung wieder, in der Umar, der zweite (aus sunnitischer Sicht rechtgeleitete) Kalif, Lärm aus einem Haus hörte und über die Mauer kletterte und einen Mann mit seiner Frau und einer Flasche Wein ertappte. Als er ihn damit konfrontierte, erwiderte der Mann, während er eine Sünde begangen habe, habe Umar gleich drei begangen. Er habe das koranische Gebot verletzt, Menschen nicht nach ihren Sünden auszuspionieren (Sure 49:12), nicht über die Mauern der Häuser zu klettern (Sure 2:189) und Häuser nicht ohne Erlaubnis zu betreten (24:27). Umar sah seinen Fehler ein und verließ sie.

Quellen

[1] Mathias Rohe: Das Islamische Recht. Beck, München 2011, S. 5f

[2] Mohammad Hashim Kamali (2009), „Can the Hudud Be Given a Fresh Interpretation?“

[3] M. H. Kamali (1999). “Punishment in Islamic Law: A Critique of the Hudud Bill of Kelantan, Malaysia” 13 Arab Law Quarterly, pp. 222-223

[4] Ṣaḥīḥ al-Bukhārī: kitāb al-muḥāribīn min ahl al-kufr wa’l-ridda, bāb lā yurjamu al-majnūn wa’l-majnūna, bāb hal yaqūlu al-imām li’l-muqirr laʿallaka lamasta aw ghamazta; Ṣaḥīḥ Muslim: kitāb al-ḥudūd, bāb ḥadd al-zinā, bāb man iʿtarafa ʿalā nafsihi bi’l-zinā

[5] Jonathan A.C. Brown, Stoning and Hand Cutting – Understanding the Hudud and the Shariah in Islam, https://yaqeeninstitute.org/jonathan-brown/stoning-and-hand-cutting-understanding-the-hudud-and-the-shariah-in-islam/#ftnt_ref28

[6] Rudolph Peters, Crime and Punishment in Islamic Law (Cambridge: Cambridge University Press, 2005), 54. Zur selben Feststellung kamen die Briten in Zusammenhang mit der Strafe für Diebstahl im 18. Jahrhundert. Siehe dafür: Jörg Fisch, Cheap Lives and Dear Limbs: The British Transformation of the Bengal Criminal Law 1769-1817 (Wiesbaden: Franz Steiner, 1983), 76

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