Warum wird der Koran gefühlvoll oder sachlich vorgetragen?

Koranwissenschaftler unterscheiden zwischen der hohen Kunst, den Koran mündlich vorzutragen (arab. tadschwid) und den verschiedenen Lesarten des schriftlichen Korantextes (arab. qira’at). Beide Methoden sind eng miteinander verbunden. Sie sind seit langem für Muslime von zentraler Bedeutung, wenn sie sich auf den Koran als Lesende, Hörende oder Vortragende konzentrieren. Die Kunst der Rezitation (arab. tadschwid) geht zurück auf die ersten Offenbarungen an den Propheten Muhammad.

Auswendig vorgetragene Korantexte galten als besonders zuverlässig

Die ersten Offenbarungen an den Propheten Muhammad wurden ihm vorgetragen und von ihm ebenfalls durch mündlichen Vortrag auswendig weitergegeben. Es war nichts Ungewöhnliches für die Zeit des Propheten Muhammads, in der Bücher und Schriftstücke noch selten waren. Wissen wurde überwiegend mündlich weitergeben. Die Kunst, auch lange Texte schnell und präzise auswendig zu lernen, war zu Lebzeiten des Propheten noch weit verbreitet. Die mündliche Weitergabe galt sogar als zuverlässiger als ein schriftlicher Text des Korans.

Bis heute sind für ein richtiges Verständnis des Korans das Zusammenspiel des mündlichen Vortrages und des schriftlich fixierten Korantextes wesentlich. So bedeutet das arab. Wort für Koran „qur’an“ auch direkt übersetzt „Rezitation, Vortrag“. Für die Zuhörenden wird quasi das Erlebnis der Offenbarungen an den Propheten Muhammad durch die angemessene kunstvolle Rezitation immer wieder neu lebendig vermittelt.

Die Ausbildung zum Koranrezitator

Aus dem grundlegenden Verständnis heraus, dass der mündliche Vortrag des Korans unlösbar zu seinem Wesen gehört, entwickelten muslimische Gelehrte möglichst angemessene Vortragsweisen. Auch durch Verse im Koran selbst fühlten sie sich dazu verpflichtet. z.B. Sure 73:4: „… Trag die Lesung vor, getragen!“

Übersetzung nach: Hartmut Bobzin. Der Koran. München 2010.)

Spätestens seit dem 9. Jahrhundert findet man Handschriften, in denen sich muslimische Gelehrte mit normierten Formen der Rezitation beschäftigen:

  • Wann werden Pausen gesetzt? Wie schnell sollte man sprechen?
  • Welches Wort sollte man stärker hervorheben oder sogar wiederholen?
  • Auch die korrekte Aussprache von Buchstaben und Buchstabenverbindungen wurde ausführlich behandelt.

Schließlich entstanden aus diesen Überlegungen umfangreiche Regelwerke. Besonders in Gelehrtenfamilien wuchsen Söhne und Töchter mit dem Unterricht des Korans auf. Manche Kinder lernten früh den Koran auswendig und zu rezitieren. Helle Kinderstimmen werden auch heute noch als besonders schön und ästhetisch geschätzt. Die Ausbildung zum Koranrezitator (arab. muqri) dauert viele Jahre. Heute gibt es sogar Shows in islamischen TV-Kanälen, in denen Koranrezitatoren im Wettkampf um die besten Kenntnisse antreten.

Unterschiede in der Kunst der Koranrezitation

Die unterschiedlichen Rezitationsweisen sind zum Teil nur für Kenner ersichtlich. Einige haben jedoch sehr charakteristische Merkmale. Sie können durch ihre Vortragsweise und Melodie bewusst Stimmungen hervorrufen. Stark umstritten ist unter muslimischen Gelehrten, ob die sehr an Gesang erinnernden Rezitationsweisen bereits als Musik gelten. Da einige Strömungen im Islam, wie z.B. die Wahhabiten, Musik grundsätzlich als haram ablehnen, bestreiten sie, dass die Rezitationsweisen etwas mit Melodie und Musik zu tun haben. Die Kunst der Rezitation (arab. tajwid) ist sehr nuancenreich: In einer sehr bedächtigen Sprechweise kann sie den Zuhörer zum besinnlichen Nachdenken über die Inhalte der Verse führen. Sie kann aber auch zu Trauer oder Euphorie führen.

Es werden im Einzelnen z.B. zwei melodischen Weisen unterschieden:

  • Murattal: ist vergleichsweise schmucklos nüchtern und dient der Liturgie und dem Unterricht
  • Mudschawwad: ist dagegen äußerst melodisch, geradezu musikalisch. Wichtige Passagen werden häufig wiederholt.

Das Erlebnis der Rezitation wiederholt für die Zuhörenden geradezu die Hörerfahrung des Propheten, als er die Offenbarungen empfängt. Während der 1930er Jahre wurden erstmals Koranrezitationen vom ägyptischen Rundfunk gesendet. Um 1961 werden die Mitschnitte einer Gesamtaufnahme der höchsten Autorität der al-Azhar, Schaykh Mahmud al-Husari verbreitet. Heute findet man zahlreiche vollständige Rezitationen von Koranen von berühmten Rezitatoren auf diversen Tonträgern und im Internet.

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