Apostasie: Todesstrafe für Ex-Muslime im Islam?
Menschenrechte und Scharia 1/4
Ex-Muslime, die aus dem Islam ausgetreten sind, nennt man Abtrünnige bzw. Apostaten. Sowohl Islamkritiker als auch muslimische Extremisten teilen die Meinung, dass der Islam für Apostaten unserer Zeit die Todesstrafe vorsehe.
Obwohl muslimische Rechtsgelehrte im Allgemeinen der Meinung waren, dass der Glaube eines Menschen auf persönlicher Überzeugung und nicht auf Nötigung beruhen soll, ist das Thema der Abtrünnigen (murtadd) unter Gelehrten kontrovers. Viele traditionelle Gelehrte vertraten die Position, dass ein Muslim für den Austritt aus dem Islam mit der Todesstrafe zu rechnen hat. Als Grundlage hierfür wird in traditionellen Rechtsbüchern oft ein als authentischer eingestufter Hadith aus der bekanntesten Hadith-Sammlung Bukhari zitiert, in der überliefert wird, dass der Prophet Muhammad sagte: „Wer auch immer seine Religion wechselt, tötet ihn.“ Al-Bukhari, Jihad, 149.
Trotz dieser Überlieferung hält der amerikanisch muslimische Hadith-Professor Jonathan A.C. Brown fest, dass der Prophet selbst Abtrünnigen keine Strafe anordnete. [1]
Als die ersten Gläubigen beim äthiopischen König Zuflucht suchten, trat Ubaydullah Ibn Dschahsch beispielsweise zum Christentum über, ohne dass er eine Strafe zu befürchten hatte.
Weiter führt Brown aus, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die vormoderne islamische Tradition sich prinzipiell ähnlich sind, da sie eine Eingrenzung der Religionsfreiheit zu Gunsten der öffentlichen Ordnung vorsehen – jedoch unterschieden sie sich in der Frage, was als Gefahr für die öffentliche Ordnung empfunden wird, sagt Brown. Er fasst zusammen: Für Muslime unserer Zeit, die selbst in Ländern leben, in denen Religionsfreiheit gewährt wird, sei es inakzeptabel, gegen das Prinzip zu verstoßen und zu versuchen, das Recht auf Religionsfreiheit anderer zu untergraben.
Viele zeitgenössische Gelehrte interpretieren den Prophetenausspruch neu im Lichte koranischer Verse und anderer Hadithe, die Apostasie thematisieren.
Mohammed Hashim Kamali, afghanischer Hochschullehrer für islamisches Recht, stellt fest, dass der Koran die Religionsfreiheit durch drei Maßnahmen gewährleiste [2]:
Der Koran verbietet Zwang im Glauben, da aufrichtige Überzeugung die Voraussetzung für das Glaubensbekenntnis ist.
Der Koran fordere, dass der Glauben rational durch intellektuelle Überzeugungskraft, überzeugende Argumente und sanften Dialog verkündet werden soll.
Der Koran lehne religiöse Praxis ab, die sich durch blindes und unbedachtes Nachahmen kennzeichne und fordere Gewissheit und aufrichtige Überzeugung, damit der Glaube durch Gott angenommen wird.
Dr. Shaykh Abdur Rahman (gest. 1990), ehemaliger Oberster Richter Pakistans, argumentiert, dass eine Todesstrafe für Abtrünnige nicht vom Propheten oder seinen Gefährten umgesetzt wurde [3] . Der ägyptische Jurist und Experte für Verfassungsrecht Mohamed Selim El-Awa [4] wendet ein, dass der Hadith in seiner Formulierung zu allgemein (amm) sei und daher eine Einschränkung (khass) brauche.
Er argumentiert, dass dieser Hadith durch einen anderen Hadith spezifiziert werde, in der ausdrücklich von politischen Abtrünnigen (Mufariq lil Jamaah) die Rede ist, die sich von der Gemeinschaft abspalten und dieser feindselig zuwiderhandeln. In einem weiteren Hadith seien explizit Aufständische (Muharib) erwähnt, die die Waffen gegen die politische Gemeinschaft der Muslime erheben. El-Awa hält fest, dass im Hadith also nicht schlichte Glaubensabkehr gemeint sein kann, sondern Staatsverrat (hirabah) und feindselige Gewalt bzw. Räuberei. Shawkani, ein berühmter jemenitischer Gelehrte (gest. 1834), unterstützt dieses Argument und weist darauf hin, dass in der hanafitischen Rechtslehre weibliche Apostate nicht mit dem Tod bestraft werden können, da sie nicht als potentielle militärische Gefahr für die öffentliche Ordnung gesehen wurden. [5]
Auch wird oft der Einwand erhoben, dass im Koran trotz der mehreren Stellen über den Austritt aus dem Glauben, an keiner eine weltliche Strafe vorgesehen bzw. vorgeschrieben wird. Stattdessen etabliere der Koran prinzipiell die Entscheidungsfreiheit im Glauben im Vers 2:256, in dem es heißt:
„Es gibt keinen Zwang in der Religion“. Im Vers 4:90 heißt es: „Doch wenn sie sich von euch fernhalten und nicht gegen euch kämpfen, sondern euch den Frieden anbieten, dann erlaubt euch Gott gegen sie keinen Grund (zu kämpfen).“
Auch der Vers 5:33 wird hier herangezogen, in welchem für den Kampf die Bedingung aufgestellt wird, dass jene gegen die Gläubigen kämpfen und Unheil stiften. [6]
Mahmoud Schaltut, ein ägyptischer Religionsgelehrter des 20. Jahrhundert und ehemaliger Oberhaupt der prominenten Universität al-Azhar, fügt hinzu, dass die Hadith-Überlieferung zur Hinrichtung von Apostaten eine isolierte Überlieferung (auch Ahad oder Khabar al-Wahid genannt) ist, und damit nicht die Voraussetzungen erfüllt, um als Beweismittel zum Festlegen einer Strafe herangezogen zu werden.
Die Überlieferung sei also unzureichend, um als Grundlage für das Anwenden von Todesstrafen zu gelten. Denn zum Festlegen von islamischen Rechtstrafen (auch Hudud genannt) sei es notwendig, dass der Prophetenspruch durch mehrere Überlieferer überliefert wurde (mutawatir), da bei einem so wichtigen Thema mit einem solch großen Ausmaß der Prophet die Anweisung vor einem größeren Publikum gegeben hätte. [7]
Quellen
[1] Jonathan A.C. Brown, „The Issue of Apostasy in Islam, Yaqeen Institute, 05.07.2017, Link: https://yaqeeninstitute.org/jonathan-brown/the-issue-of-apostasy-in-islam/#ftnt_ref31
[2] Mohammad Hashim Kamali (1992). “Freedom of religion in Islamic Law.” (1992) 21 Capital University Law R-view, S. 80
[3] S.A. Rahman (1978). „The Punishment of Apostasy in Islam“ Institute of Islamic Culture, 2. Edition, S. 63
[4] El-Awa, M. S., Punishment in Isl
[5] Muhammad bin Ali al-Shawkani (1993), „Nayl al-Awtar“, Cairo: Dar al-Hadith, S. 219
[6] İRFAN İNCE, „RİDDE“, TDV İslâm Ansiklopedisi, https://islamansiklopedisi.org.tr/ridde#1 (08.07.2019).
[7] Mahmud Shaltut (2001). „Al-Islam ‘Aqida wa Shari’ah“. Cairo: Dar al-Shuruq, S. 280-281, S. 292-293