Sufismus

Jede monotheistische Religion kennt Strömungen, Erscheinungen oder auch Bewegungen, die in der Religionswissenschaft und der Öffentlichkeit gerne als „Mystik“ bezeichnet werden. Im sunnitischen Islam träfe dies auf den Sufismus (auch Tasawwuf) zu.

Berichte von Menschen, die versuchen, sich aus dem alltäglichen Leben zurückzuziehen, wenig Nahrung zu sich nehmen und viel beten oder meditieren, finden sich bereits seit tausenden Jahren. Diese sogenannten Asket*innen gab es bereits zu Lebzeiten des Propheten – Menschen, die versuchen eine noch tiefere (oder auch andere) Bindung mit Gott zubekommen.

Sufismus: Askese, Schriften und Ideen

Das Wort Sufismus/Tasawwuf geht wahrscheinlich auf das arabische Substantiv ṣūf (Kleidung aus Wolle) zurück, die lange Zeit als Erkennungsmerkmal für asketisch lebende Gläubige galt. Einer der ersten muslimischen Asketen dieser Art war Hasan al-Basri, ein Tabi’i und Korangelehrter, auf ihn beziehen sich bis heute viele Anhänger*innen sufisch-muslimischer Gelehrsamkeit.

Spätestens im 3. Hijri-Jahrhundert kamen neben der Askese, dem Verzichten diesseitiger Annehmlichkeiten (Zuhd), Armut (Fakīr) und fast ständigem Fasten auch erste theoretische Schriften und Ideen dazu. Im von den Abbasiden gegründeten intellektuellem Zentrum Bagdad kam es im Jahr 309 Hidschri zu einem ersten Todesurteil gegen einen Sūfi, der berühmte Prediger und Dichter al-Hallādsch wurde wegen Ketzerei gekreuzigt.

Gelehrte richteten sich gegen Sūfis

Zur fast gleichen Zeit setzten sich in Persien und Ägypten Ideen durch, dass besonders al-Hubb (Liebe), Fanā (Auflösung des Egos), Baqā’ (Permanenz) und Ma’rifa (Gotteserkenntnis) wichtige Teile des Weges der Muslim*innen sei. Kommuniziert wurde dies meist nicht über klassische theologische Abhandlungen, sondern mit Gedichten oder poetischen Gebeten. Eine Form, die bis heute eine große Rolle im Tasawwuf spielt.

Erst der wichtige Gelehrte al-Ghazālī fasste viele der Gedanken, Ideen und Gebete systematisch zusammen und richtete sich gleichzeitig gegen die Sūfis, deren Glaubenslehre aus seiner Sicht als islamischer Gelehrter nicht mit Quran und Sunna vereinbar waren.

Sufi-Orden haben Anerkennung

In der Folge entwickelten sich gemeinschaftliche Strukturen, die als Tarīqa (pl. Turuq) bezeichnet werden. Tarīqa bedeutet so viel wie „Weg“, der Weg also, den Menschen einschlagen, um dahin zu gelangen, wo es am besten ist: die Auflösung des eigenen Ichs und absolute Gotteserkenntnis.

Zwar gibt es weiterhin enorme Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen des Tasawwuf, doch die Auflösung in das göttliche Prinzip ist das Ziel, also Gott so nahe zu kommen wie nur eben möglich. Unterschiedlich sind lediglich die Wege dahin, was sich in den Turuq wiederfindet. Dort ist es von grundlegender Bedeutung, dass der Šaiḫ/Schaikh die spirituelle Anleitung, das Wissen und die Liebe zum Propheten nicht nur verinnerlicht hat, sondern auch von seinem Schaikh bekommen hat. Das Prinzip der Silsila ist gesamtislamisch wichtig, doch gerade bei den Ahl-ut-Tasawwuf (den Leuten des Sufismus) ist es unabdingbar, dass Muridīn (Schüler) nur von Gelehrten mit intakter Überlieferungslinie nehmen sollen. Die unterschiedlichen Sufi-Orden (Tarīqa, Turuq) können ihre Kette der Überlieferungen bis zu Ali und Abu Bakr und haben auch daher islamische Legitimation und Autorität.

Derwische, die sich stundenlang im Kreis drehen

Zentraler Bestandteil des Sufismus ist der Dhikr. Vermutlich allen Muslim*innen ist eine Form des Gedenkens an Gott bekannt, denn sie können sehr unterschiedlich sein. Sūfis haben besondere täglich oder wöchentliche Formen des Dhikrs. Bekannt sind Derwische, die sich minuten- oder stundenlang im Kreis drehen können, was im Grund genommen nichts anderes als eine lang tradierte Form des Gedenkens an Gott darstellt. Meist werden in Turuq poetische Gebete gesungen und rezitiert, Quran rezitiert und zu besonderen Anlässen (je nach Tarīqa) Musik gemacht oder eine Hadra durchgeführt. Das Ziel der Übungen, Gesänge oder ekstatischer Tänze ist es, Gott näher zu kommen.

Terror gegen Einrichtungen und Individuen des Tasawwuf

Aus sufischer Sicht stellen die Lehren keinerlei Widerspruch zum Islam dar, sondern sind fester Bestandteil des orthodoxen Islams. In Deutschland gibt viele Muslim*innen, die die Praxis des Tasawwuf ausüben, es gibt nicht nur die Orden der Naqschbandīya, sondern auch die stark nubisch geprägte Burhanīya, die Darkawīya oder auch die Bektaschi und Qadirīya.

Wenn gleich der Sufismus nicht im politischen Fokus steht, so sind nicht wenige Orden je nach Land auch für die Staaten und Präsidenten sehr wichtig. In Tschetschenien entwickelte sich die regionale Qadirīya zu einem wichtigen Element für die Alleinherrschaft des dortigen Präsidenten Kadyrov. Ebenso sind unterschiedliche Orden in der Türkei zur Machtbasis von Präsident Erdogan geworden.

In der neueren Zeit entwickelten sich einige wenige Orden, die in Gänze ihren Bezug zum Islam abgelegt haben und sich ausschließlich als Sūfi bezeichnen. Sūfis waren und sind Gegenstand vieler Debatten aber auch mörderischer Angriffe. Salafisten und Wahhabiten sind starke Ablehner des Sufismus und terroristische Organisationen wie der sogenannte „Islamische Staat“ haben immer wieder gezielt Gruppen, Einrichtungen und Individuen des Tasawwuf angegriffen und getötet.

zurück