Ist das Corona-Virus eine göttliche Strafe? Eine kurze Betrachtung aus zeitgenössischer theologischer Sicht

Im Internet kursieren diverse Verschwörungstheorien und Fake-News rund um das Corona-Virus. Darunter gibt es auch Mythen und Verschwörungen, die versuchen, die Pandemie durch den Islam zu erklären. Gott bestrafe mit dem Corona-Virus die Ungläubigen, heißt es etwa häufiger, obwohl etwa der Iran zu den am stärksten betroffenen Ländern gehören und auch in der Türkei bereits Tausende an den Folgen von SARS-CoV-2 gestorben sind. Oder es heißt, Gott bestrafe dieses oder jenes Volk, diese oder jene Regierung, etwa China, da dessen Regierung die muslimische Minderheit der Uiguren in Zwangslager interniert. Doch das Virus kennt weder „Gute“ noch „Böse“. Wir alle sind betroffen.

Doch was sagen und denken muslimische Gelehrte bezüglich des Themas? Sind Plagen göttliche Strafen? Wenn nein, wie bewerten sie das aus Sicht einer muslimischen Glaubensperspektive?

Corona: Das sagen muslimische Gelehrte

Weltweit kamen und kommen Gelehrte zu Wort. Shaikh Hamza Yusuf Hanson, der amerikanische Gelehrte, charakterisiert die Krise in einer Botschaft als eine Gelegenheit für Muslime. Durch einen kurzzeitigen Entzug von Selbstverständlichkeiten werde es ihnen bewusster, mit welchen Gaben Gott sie ausgestattet habe: Sicherheit, Ernährung, Mobilität (Bewegung), Familie, Freunde und Glaube. Dadurch, dass viele Selbstverständlichkeiten für eine kurze Zeit verloren gehen, könnten Muslim*innen diese Gaben noch besser erkennen und sehen, was ihnen gerade jetzt fehle, wodurch sie es noch besser wertschätzen können.

Für Shaikh Hamza ist nicht nur ein Virus, sondern jede andere Art von Krankheit und Leid eine Prüfung und göttliches „Kismet“, ein Schicksal, das Muslim*innen mit Geduld und Behagen meistern sollen. Das Virus erschien offensichtlich erstmals im altertümlichen, weisen China und das chinesische Ideogramm (graphische Symbol) für „Krise“ sei dasselbe für „Gelegenheit“ – so sollen wir laut Shaikh Hamza eine Gelegenheit oder Chance in der Situation erkennen.

Dr. Mahmud Kellner vom Institut für islamische Theologie in Osnabrück zitiert in seinem Vortrag zum Umgang mit dem Corona-Virus folgende Koranverse:

„Und Wir werden euch ganz gewiß mit ein wenig Furcht und Hunger und Mangel an Besitz, Leben und Früchten prüfen. Doch verkünde frohe Botschaft den Standhaften, die, wenn sie ein Unglück trifft, sagen: „Wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück.“ Sie sind es, denen Segnungen von ihrem Herrn und Erbarmen zuteilwerden, und sie sind die Rechtgeleiteten.“ (al-Baqara 155-157)

Dr. Kellner sagt, es sei nicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine solche Krise die Welt erschüttere. Europäer seien aber gewohnt, Sicherheit und Wohlstand zu haben. Zu sehen, dass Europa das Epizentrum einer Krise wird, sei eine neue Erfahrung für viele von uns.

Islamwissenschaftler warnen vor Corona-Verschwörungen

Das mache uns Menschen unsere Schwäche und Verletzlichkeit bewusster. Die Erkenntnis aus dieser neuen Erfahrung sei wichtig für die Beziehung des Menschen zu Gott. Daher sieht er die Krise im Grunde genommen als ein Zeichen göttlicher Barmherzigkeit. So betont er, dass die Verantwortung der Menschen sei, darüber nachzudenken, was das Virus für uns persönlich bedeutet, und wie wir richtig darauf zu reagieren haben.

„Wir dürfen eine solche Krankheit nicht unterschätzen“, sagt Kellner, und warnt vor Verschwörungstheorien, die behaupten, das Virus sei von dunklen Supermächten entwickelt worden. Er fügt hinzu: „Menschen, die ständig an solchen Theorien hängen, haben einfach das Problem, dass sie die Macht Gottes nicht anerkennen können. Wir sind nicht autorisiert, den göttlichen Willen in einer Weise zu interpretieren, was darüber hinausgeht, was wir mit absoluter Sicherheit wissen. Wir können nicht für Gott sprechen.“

Dr. Waseem Yusuf, ein Fernsehprediger und Gelehrter aus Kuwait, sagt zum Thema Verschwörungstheorien, dass es gefährlich sei, Menschen in Kategorien zu stecken. Göttliche Bestimmung trenne nicht zwischen guten und bösen Menschen, sondern umfasse die Allgemeinheit und betreffe die Gesamtheit. Er erinnert dran, dass auch zu Zeiten des Propheten es eine Plage und eine Überschwemmung gegeben hat und Gefährten des Propheten daran starben.

Dr. Waleed Mosaad, amerikanischer Gelehrter und Seelsorger, charakterisiert Verschwörungstheorien als versteckten Polytheismus (Schirk). Jede Epidemie einer versteckten dunklen Gruppe zuzuschreiben heiße, man sei unfähig, Gottes Willen hinter solchen Krisen zu erkennen. Er befindet sich somit also etwa auf einer Linie mit Dr. Mahmud Kellner.

Was wären nun Handlungsoptionen im Umgang mit dem Corona-Virus?

Alper Soytürk, Doktorand der islamischen Theologie, zitiert Ibn Ḥaǧar al-Asqalānī (gest. 1449 n. Chr.), der in seinem Werk von einer Seuche in Damaskus im Jahre 1349 berichtet, worin Asqalani dazu geraten hat Menschenansammlungen zu vermeiden. Soytürk schreibt:

„Der Schutz menschlichen Lebens (hifẓ an-nafs) gehört zu den höchsten Zielen, denen gemäß der islamischen Prioritätenlehre (maqāṣid aš-šarīʿa) nachgekommen werden muss und wenn dies bedeutet, dass alle Moscheen bundesweit schließen müssen, dann muss dem Folge geleistet werden. Selbst zur Zeit des Propheten Muhammad (sas) brach eine Seuche aus, die al-ʿAsqalānī in dem Werk auch erwähnt (Die Seuche „Šīrūya“, übersetzt ins Deutsche handelt es sich um Kavad II. ein sassanidischer Herrscher, da die Seuche sich zu seiner Herrschaftszeit ausbreitete). Der Prophet empfahl in solchen Fällen für diejenigen, die sich in der Stadt, befinden wo die Epidemie ausgebrochen ist diese nicht zu verlassen und alle anderen Menschen diese Stadt nicht zu betreten. Als der Gefährte ʿUmar (r.a.) sich auf den Weg nach Damaskus machte erhielt er die Nachricht, dass dort eine Seuche ausgebrochen sei, woraufhin er nach Medina zurückkehrte.“

Abschließend appelliert Alper Soytürk an seine Follower auf Instagram: „Es gibt im Grunde noch vieles zu sagen, aber wenn ich das Wesentliche zusammenfassen darf: Bleibt zu Hause und bleibt gesund!“

Sowohl in theologischen Beiträgen als auch auf Sozialen Medien wird derzeit rund um die Thematik des Corona-Virus an einen zentralen Hadith erinnert: „Einst kam ein Mann zum Propheten und sagte: „O Gesandter Allahs! Soll ich mein Kamel Allah anvertrauen indem ich es anbinde oder indem ich es freilaufen lasse?” Der Prophet (s.a.w.) antwortete ihm: „Binde dein Kamel an, sodann vertraue es Allah an!”. Sehr viele Gelehrte versuchen die Muslime derzeit genau an diesen Hadith und die Lehren, die sich daraus ableiten, zu erinnern. Ziel ist es dabei wohl, das Verhalten von Muslimen positiv zu beeinflussen und vor Ohnmacht zu bewahren, damit niemand sich machtlos und verloren fühlen muss.

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