Wie deuten KorankommentatorInnen Jesus‘ Tod?

In Korankommentaren nimmt das Thema der Kreuzigung von Jesus einen großen Raum ein. Vielen muslimischen AutorInnen dienen die Kommentartexte zu den Koranversen 4:157-158 für Argumentationen, mit denen sie Islam und Christentum deutlich voneinander abgrenzen. In den Kommentaren findet man zahlreiche unterschiedliche, teils widersprüchliche Traditionen und Interpretationen. Sie können wie folgt zusammengefasst werden:

Die Scheintheorie

Die Scheintheorie (Doketismustheorie): Jesus wurde nur scheinbar gekreuzigt und starb nur zum Schein den Kreuzestod. Friedrich Rückerts (gest. 1866) Übertragung von Sure 4:157 kommt diesem Verständnis sehr nahe:

„Es täuschte sie ein Scheinbild nur.“

Die Vorstellung einer Scheinkreuzigung ähnelt sehr den umstrittenen christologischen Lehren, wie sie zur Zeit des Propheten Muhammad in einigen christlichen Gemeinden des Mittleren Ostens vertreten wurden.

Die Ersatztheorie

Die Ersatztheorie (Substitutionstheorie): Anstelle von Jesus sei eine andere Person gekreuzigt worden. Diese Person sah Jesus täuschend ähnlich. Parets und auch Khourys Koranübersetzungen folgen dieser Interpretation und stehen somit im Gegensatz zu Bobzin, dessen Übertragung eher die Scheintheorie stützt. Auch aktuelle Übersetzungen muslimischer Gelehrter gehen häufig von der Annahme aus, der Prophet Jesus sei durch einen Ersatzmann ausgetauscht worden. Einige christliche Sekten zur Zeit Muhammads vertraten auch diese Vorstellung. Heute ist die Ersatztheorie die am weitesten unter Muslimen verbreitete Interpretation der der Koranverse Sure 4:157-158.

Weitere Varianten über Tod und Kreuzigung des Propheten Jesus

Bedeutende Korankommentatoren wie Zamakhshari (gest. 1144), al-Baidawi (gest. 1290) oder at-Tabari (gest. 932) bieten zu den beiden genannten Theorien noch zahlreiche weitere Variationen. So gibt es eine große Vielfalt von unterschiedlichen Überlieferungen und Vorstellungen darüber, ob Jesus gekreuzigt wurde oder nicht. Ähnliche Traditionen und Interpretationen findet man auch im schiitischen Islam.

Der Koran als Quelle über christliche und jüdische Sekten

Für viele WissenschaftlerInnen ist heute hochinteressant, dass sowohl Hadithe als auch Korankommentare Erinnerungen und Deutungen über Glaubensinhalte christlicher und jüdischer Gruppierungen zur Zeit Muhammads beinhalten. Muhammad, seine Gefährten und muslimische Gelehrte haben christliche und jüdische Debatten ihrer Zeit gekannt und sich mit ihnen auseinandergesetzt. So sind der Koran und seine Kommentare auch wertvolle Dokumente über die muslimische Wahrnehmung der zahlreichen christlichen und jüdischen Dispute über das Ende von Jesus und seine theologische Bedeutung für die Menschheit.

Die Ersatztheorie dominiert das Verständnis von Sunniten über den Tod des Propheten Jesus

Heutige sunnitische und schiitische Korankommentatoren vertreten überwiegend eine Variante der Ersatztheorie. Stark verbreitet ist daher unter MuslimInnen der Glaube, dass der tatsächliche Jesus vor der Kreuzigung lebendig, mit Körper und Seele, von Gott zu sich genommen wurde. Weiterhin herrscht weitgehende Einigkeit unter muslimischen Gelehrten in der Ablehnung der zentralen christlichen Bekenntnisse, die mit der Kreuzigung von Jesus verbunden sind: Vergebung Gottes und Erlösung von den Sünden. Auch wenn Jesus am Kreuz gestorben wäre, sein Tod hat aus muslimischer Sicht keine Bedeutung hinsichtlich einer Erlösung der Menschheit von ihren Sünden. In muslimischer Deutung ist Jesus zwar ein herausragender Prophet, bleibt aber auch weiterhin nur ein Mensch.

Quellen

Christfried Böttrich u.a. (Hg.). Jesus und Maria in Judentum, Christentum und Islam. Göttingen 2009, S. 165ff., 169ff.

Gabriel Said Reynold. The Muslim Jesus: Dead or Alive? In: BSOAS Vol. 72, Nr. 2 (2009), S. 237-258. Christine Schirrmacher. The Islamic View of Major Christian Teachings. Bonn, 2008. S. 85 ff.

Hüseyin İllker Çinar. Maria und Jesus im Islam. Wiesbaden 2007. S. 112 ff. Martin Bauschke. Jesus im Koran. Köln u.a. 2001. S. 83 ff. Oddbjørn Leirvik. Images of Jesus Christ in Islam. London, New York 2010, S. 74ff.

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