Die Bedeutung Jerusalems für Muslim*innen
Wenn wir Qibla oder Kıble lesen oder hören, denken wir automatisch an Mekka oder die Kaaba, um genauer zu sein. Denn in jeder Moschee gibt es meist irgendetwas, das darauf hinweist, in welche Richtung das Gebet verrichtet werden solle. Doch bevor Mekka muslimisch wurde, war die erste Gebetsrichtung keine geringere Stadt als Jerusalem. Dies und weitere wichtige Gründe geben Jerusalem bis heute eine herausragende Stellung bei Muslimen*innen.
Der frühislamische Geograf und Reisende Schams ad-Din al-Maqdisi sagte im zehnten Jahrhundert über diese so bedeutende, geliebte aber auch gehasste Stadt: „Jerusalem ist die glanzvollste Stadt. Aber Jerusalem hat auch Nachteile. So heißt es: Jerusalem ist ein goldener Kelch voller Skorpione.“
In den Medien wird über Jerusalem oft im Kontext von Spaltung, Gewalt, Trauer und Unmut berichtet. Darauf hinzuweisen ist wichtig und berechtigt, denn Verdrängung, Okkupation, Bedrohungen, Streit und Sorgen sind in Jerusalem real, sie sind Alltag.
Abseits dessen was uns trennt, möchten wir dieses Mal auf die Vielfalt der Stadt blicken. „Die Stadt der Städte“, wie es oft heißt, oder der „Mittelpunkt der Erde“ blickt auf eine Geschichte zurück, die gleichzeitig Diversität, Zerstörung, Verlust und Hoffnung symbolisiert. An allen Straßenecken, besonders in der Altstadt oder anderen Stadtteilen, deren Falten tiefe Furchen aus Jahrhunderten sind, erkennt man diese Vielfalt.
Jerusalem: über 6000 Jahre geprägt
Diversity, Multikulti und Vielfalt sind heutzutage manchmal nur politische Schlagworte, doch in weiten Teilen des Mittelmeerraums sind und waren dies historisch gewachsene Realitäten und keine Parolen. Ein Gang durch Jerusalem genügt, um das Zusammenleben oder auch das nachbarschaftliche Nebeneinander-Existieren schnell zu verstehen.
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In Jerusalem angekommen, sieht man schnell, dass die Stadt seit 6000 Jahren von ihren Einwohnern*innen, Besuchern*innen aber auch Eroberern*innen und Zerstörern*innen in vielerlei Maß geprägt wurde und wird. Die verwinkelten Gassen, Straßen und Wege in der Altstadt könnten genauso gut in Tiflis, Granada oder Palermo sein. Israeliten, Römer, Byzantiner, Araber, Griechen, Armenier, Aramäer, Osmanen – alle trugen und tragen zum Charakter der Stadt bei, mit Kultur aber viel mehr mit Religion. Jerusalem steht für die Koexistenz so vieler unterschiedlicher Glaubensrichtungen.
Al-Aqsa-Moschee, Felsendom, Klagemauer
Von der Klagemauer, den Resten der antiken jüdischen Tempel, die die Römer haben zerstören lassen, sieht man sofort den Haram asch-Scharif – das edle Heiligtum. Die deutsche Bezeichnung lautet Tempelberg, dahinter verbirgt sich die Geschichte des Ortes, denn dort haben die Tempel einst gestanden. Auf dem Tempelberg stehen zwei Moscheen, die im Islam enorme Bedeutungen haben und aufzeigen, weshalb Jerusalem – auf Arabisch al-Quds und Kudüs auf Türkisch (die Heilige) – für Muslime so wichtig ist. Zum einen steht dort die als drittheiligste beschriebene al-Aqsa-Moschee und zum anderen der Felsendom mit seiner berühmten goldenen Kuppel. Darin befindet sich ein Felsen, der sowohl in der jüdischen, als auch in der muslimischen Tradition enorm wichtig ist. Zum einen soll darauf, nach jüdischer Überlieferung, Isaak von Abraham Gott geopfert worden sein; und zum anderen ist dies der Ort, nach islamischer Überlieferung, wo der Prophet Muhammad seine nächtliche Reise gen Paradies angetreten haben soll.
Die unweit des Felsendoms liegende al-Aqsa-Moschee hat deshalb eine so enorme Bedeutung im Islam, da sie nach der Überlieferung im Quran als „ferne Kultstätte“ direkt erwähnt wird und ist somit nach der Masdschid al-Haram in Mekka und der Prophetenmoschee in Medina die drittwichtigste Moschee ist. In ihr verrichtete Gebete sollen bis zu 10.000 Mal „wertvoller“ sein als in die anderen Moscheen.
Auf nur wenigen hundert Metern vereinen sich somit die wichtigste Gebetsstätte des Judentums – die Klagemauer – und zwei Moscheen, die für Muslime*innen weltweit eine herausragende Wichtigkeit haben.
Die al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg gilt als die drittwichtigste Moschee.
Umar ibn al-Khattab eroberte Jerusalem im 7. Jahrhundert
Doch Jerusalem ist noch viel mehr. Es braucht nur wenige Minuten zu Fuß, um zur Grabeskirche zu gelangen. Auf dem Weg dorthin begegnet man Pilgern*innen aus allen Himmelsrichtungen der Welt und geht vorüber an Moscheen, Kirchen, orthodoxen Jüdinnen und Juden. Eine der Besonderheiten der Grabeskirche liegt im Misstrauen verschiedener christlicher Konfessionen jeweils anderen christlichen Glaubensrichtungen gegenüber. Der zweite Kalif Umar ibn al-Khattab eroberte Jerusalem im siebten Jahrhundert und garantierte in seiner Deklaration Christen und Juden vertraglich Schutz, so z.B. verfügte er, dass jüdische Rituale wieder in Jerusalem durchgeführt werden durften, was unter römischer Botschaft strengstens untersagt war.
Seit des „Umarischen Vertrags“ von 637 sind arabisch-palästinensische Familien die Wächter über die Schlüssel zur Kirche, die sie in Zeremonien den unterschiedlichen christlichen Vertretern immer dann überreichen, wenn deren Zeit zur Benutzung der Kirche anbricht. An der Stelle der Grabeskirche soll Jesus von den Römern gekreuzigt worden sei, die Erinnerung daran ist ein wichtiger Bestandteil vermutlich aller christlicher Konfessionen, weshalb der Ort so eine große Bedeutung hat.
„Travel and Pray“
Jeder Gang durch die Altstadt und deren Umgebung zeigt in wie vielen unterschiedlichen Formen Gott in Jerusalem gedacht wird, wie Gott angebetet wird. Zu jeder Minute des Tages gibt es irgendwo Gläubige, die in Jerusalem Gebete verrichten. Viele Junge Menschen aus Deutschland machen jährlich bei Programmen wie „Work and Travel“ oder „Workaway“ mit, nach Jerusalem gehen Menschen für „Travel and Pray“ – oder klassisch geschrieben: sie pilgern.
Aber wer ist dieses Jerusalem oder vielmehr was? Diese Fragen sind schwierig zu beantworten, das Gefühl dort durch die Stadttore zu gehen, die Glocken und den Gebetsruf zu hören, vermischt mit Händlern*innen und den Emotionen der Menschen, wenn sie sowohl „ihre“ als auch die heiligen Orte der „Anderen“ sehen und dabei oft merken, dass es sich „wir“ und „sie“ auflösen, ist wohl kaum in Worte zu fassen. Und trotzdem ist es ein schönes Gefühl und wir hoffen, dass noch sehr viele weitere Menschen das Privileg erhalten werden, Jerusalem wenigstens einmal besucht zu haben, trotz der oftmals widrigen Umstände dorthin zu gelangen.