#02 | „Man muss positiv auf der Suche sein“: Autor Tarek El-Sourani über Entfremdung und Zugehörigkeit

Tarek El-Sourani ist Islamwissenschaftler und Autor, er hat mit Freunden den Blog Dreinblick ins Leben gerufen, der sich als muslimisches Feuilleton versteht. Mit Islam-ist sprach er über seine Gedanken zu Entfremdungserfahrungen junger Muslime.

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Islam-ist: Hey und Salam Aleikum, lieber Tarek. Kannst du dich bitte kurz vorstellen?

Tarek El-Sourani: Klar. Ich bin 29 Jahre alt, habe in Leipzig Arabistik und Germanistik studiert, dann zwei Jahre an der Uni und zweieinhalb Jahre in der Erwachsenenbildung als Referent gearbeitet. Vor zwei Jahren bin ich dann nach Berlin gezogen und habe mein islamwissenschaftliches Studium an der Freien Universität zu Berlin begonnen. Derzeit bin ich im letzten Semester, muss noch meine Masterarbeit schreiben und engagiere mich nebenbei im muslimischen Feld, könnte man sagen.

Islam-ist: Das Projekt von Freunden und dir nennt sich Dreinblick. Was macht ihr?

Tarek El-Sourani: Dreinblick ist ein vorrangig an deutschsprachige Muslime gerichtetes Blog, aber auch an Gläubige anderer Religionen. Wir versuchen, ganz grob gesagt, eine Lücke im deutschsprachigen muslimischen Diskurs zu füllen – nämlich die Lücke des Philosophischen und Literarischen oder des Religionsphilosophischen, könnte man auch sagen. Im deutschsprachigen muslimischen Diskurs ist das religiöse Feld einigermaßen bedient – ob es gut bedient ist, sei mal dahingestellt – und das politische Feld, aktuell auch von der jungen Generation, ist stark frequentiert.

Was es nicht gibt, ist ein künstlerisches, literarisches, religionsphilosophisches Medium, das sich dezidiert mit diesen Fragen auseinandersetzt. Diese Lücke wollten wir bewusst schließen. Damit versuchen wir praktisch der Diskursverhärtung, die in Deutschland stattfindet, zu entfliehen.

Mit Selbstbewusstsein Themen setzen

Islam-ist: Was meinst du mit Verhärtung?

Tarek El-Sourani: Wir haben das auch einmal in der Redaktion bei uns Diskurszirkus genannt. Wir sind seit zwei Jahrzehnten in Deutschland und sehen, dass sich die Islamdebatte in Deutschland kein Stück hin zum Positiven bewegt hat. Es ist eher das Gegenteil hin zum Negativen, es ist die ewige Wiederholung des Gleichen. Es sind immer die gleichen drei Themen, die gleichen fünf Akteure, die sprechen, die vor allen Dingen muslimische Problemfelder ansprechen, die existieren, die man auch ansprechen muss, aber nicht in dieser Frequenz, nicht in dieser Häufigkeit.

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Und was wir auch beobachtet haben, ist, dass die Muslime darauf immer nur reagieren. Es wird irgendwie ein Problem konstatiert von irgendwelchen Stichwortgebern, in der Regel Journalisten oder Leute mit nicht genügend Expertise wie die sogenannten Islamexperten – und die Muslime reagieren darauf, aber es bleibt in diesem „Actio-Reactio“. Was wir mit Dreinblick machen wollten, ist positiv und selbstbewusst eigene Themen zu setzen. Unser Bedürfnis war es, raus aus diesem Diskurs zu kommen und mit einer gewissen Sprachfähigkeit eigene Themenfelder zu erschließen, neu zu besetzen, aus einer dezidiert muslimischen Perspektive oder aus einem dezidiert muslimischen Bewusstsein heraus.

Islam–ist: Du sagst, dass ihr mit dem öffentlichen Islam-Diskurs nicht einverstanden seid. Ist es eine Art alternativer Diskurs, den ihr anzugehen versucht?

Tarek El-Sourani: Im Grunde genommen ist es das. Im Grunde genommen sitzen wir da und schütteln den Kopf über das, was draußen über uns gesagt wird und fangen an, selbstbewusst sprachfähig zu werden, eigene Themen zu setzen und die ganz selbstbewusst nach draußen zu bringen. Ich würde sagen, das kann man sicherlich als Alternativdiskurs sehen.

Tarek El Sourani, Islamwissenschaftler und Blogger

Mit Sprache gegen Entfremdung

Islam-ist: Viele junge Muslime fühlen sich entfremdet von der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Was würdest du ganz persönlich empfehlen, um ein Zugehörigkeitsgefühl gegenüber dem Umfeld zu haben, in dem man lebt?

Tarek El-Sourani: Zugehörigkeit, da hängen zwei Leute dran. Da bin ich auf der einen Seite, der irgendwie gerne dazugehören möchte, aber sich zum Beispiel entfremdet fühlt als jemand mit einem arabischen Background, mit einem türkischen Background. Und da bist du, der sozusagen mir die Zugehörigkeit gewährt. Demnach kann ich irgendwie die Entfremdung erst einmal grundsätzlich verstehen. Ich glaube, ich hatte die selbst.

Es ist auch eine sehr natürliche Erfahrung, dass man vielleicht denkt: „Okay, ich bin nicht ganz so wie meine Mitschüler.“ Man muss positiv auf der Suche danach sein. Und es ist nicht gesagt, dass man das von heute auf morgen findet. Aber wenn man lange genug dranbleibt, dann wirt man das schon finden. Was ist die Alternative? Die Alternative ist: Man sitzt alleine entfremdet in deinem Zimmer und hat Ressentiments gegen die Welt und gegen sein Schicksal.

Islam-ist: Wie bist du damit umgegangen?

Tarek El-Sourani: Ich glaube, man muss etwas finden, was das Ganze kanalisiert. In meinem Fall war das die deutsche Sprache, Literatur, Philosophie. Irgendetwas finden, was einen ein bisschen aus diesem Kreislauf herausholt. Weil diese Entfremdungserfahrungen, die ich auch selbst gemacht habe, am Ende negativ sind. Am Ende stehe ich da: Ich bin ein Opfer. Entweder ein Opfer meiner Umstände oder ein Opfer der Mehrheitsgesellschaft – und dann entwickle ich Ressentiments. Mit diesen Ressentiments fühle ich mich irgendwann unfair behandelt, und das geht so weit, dass ich mich vom Leben unfair behandelt fühle und so weiter. Das kann depressiv machen, das ist eine negative spirituelle Spirale, der man folgt. Und aus der muss man auf jeden Fall einerseits muslimisch ausbrechen, aber ich glaube auch kulturell. In meinem Fall war das die Sprache und die Liebe zur Sprache, und das kann ich so eindeutig sagen: auch die Liebe zur deutschen Sprache als junger Muslim.https://api.islam-ist.de/wp-admin/post-new.php?post_type=beitraege#

Mit Glaube gegen Pessimismus

Islam-ist: Wenn man sich entfremdet fühl, ist eine Begleiterscheinung häufig, dass man online nach einer Art Erlösung sucht, einem Heil, einfachen Antworten, die dieses Gefühl der Entfremdung noch bestärken. Das Internet lauert nur von extremistischen Predigern, die ihren Zuhörern auch ideologische Versprechen geben, die beispielsweise die Wiederkehr zum Osmanischen Reich oder dem Kalifat versprechen.

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Tarek El-Sourani: Die Frage ist, was da kompensiert wird. Dabei spielen auch Demütigungen eine Rolle, so ein angekratztes muslimisches Selbstbewusstsein. Das gibt es auch sehr stark, sozusagen die Erfahrung der kollektiven Demütigung in der Vergangenheit, die sich heute fortsetzt. Das Osmanische Reich gibt es heute nicht mehr, und die vermeintliche Glorie des Osmanischen Reichs gibt auch nicht mehr, und die muslimischen Länder, zumindest im Nahen und Mittleren Osten, stecken alle mehr oder weniger in Problemen.

Islam-ist: Siehst du da eine Gefahr mit utopischen ideologischen Versprechen?

Tarek El-Sourani: Ich halte sie für eine große Gefahr. Diese Versprechen einer perfekten, harmonischen Gesellschaft und Gemeinschaft wurden im 20. Jahrhundert durch diverse Ideologien gegeben und sind brachial gescheitert. Diese innerweltlichen Versprechen einer permanenten Glückseligkeit, ein Paradies auf Erden, die gehen, glaube ich, immer schief.

Und das ist ein Stück weit eine religiöse Desillusionierung. Es ist wichtig, dass man als religiöser Mensch sagt: Nein, auch Gott hat uns gesagt, es wird Leid und Böses in dieser Welt geben. Unsere Aufgabe ist es, sich ein Stück weit dagegenzustellen. Aber es wird weiter existieren.

Islam-ist: Kannst du ein konkretes aktuelles Beispiel nennen?

Tarek El-Sourani: Wenn wir so etwas hören wie über due Uiguren, das lässt uns ja auch nicht kalt. Es ist jetzt nicht so, dass das irgendwie nur auf einen 17-Jährigen oder auf einen Schüler zutrifft. Da spielt Alter gewissermaßen keine Rolle. Da kann ich 50 oder 60 sein und dieses Ohnmachtsgefühl dennoch haben. Man ist hundertprozentig nicht alleine damit. Wir müssen lernen, damit umzugehen, dass es in der Welt Ungerechtigkeit gibt und geben wird.

Das heißt nicht aber nicht, dass wir nichts tun können, dass wir nichts tun sollen. Das heißt erst einmal nur, dass wir wahrnehmen müssen, dass es existiert, dass uns das treffen kann, jetzt ganz persönlich, aber auch kollektiv, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Und um einen Umgang damit überhaupt erst mal zu finden, müssen wir akzeptieren lernen. Das heißt nicht, dass wir Pessimisten werden müssen. Wir können immer noch aktiv in die Welt hinausgehen und es positiv aus einer gläubigen Perspektive heraus versuchen.

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